Der Doppelgänger

Stocki, mein Kater, führt ein zweites Leben im Verborgenen. Bei uns daheim ein Schnurrekater, lieb und streichelfähig, bleibt uns logischerweise das Meiste von dem, was er „in der freien Natur“ so treibt, völlig verborgen. Die Ergebnisse seiner Jagdtouren bekamen wir zwar immer wieder zu sehen, aber wo er seine Beute erlegte und wie weit er sich dabei bisweilen von unserem Haus entfernte, war schwer einschätzbar für uns. Wie denn auch: Wir konnten ihm ja keinen Sender anhängen und womöglich via Peilung verfolgen, wohin es ihn trieb. Aber wohin auch immer: er hatte noch jedes Mal den Weg zurück gefunden…

Dieser Tage war Stocki eines Vormittags besonders hungrig heimgekehrt. Er fraß ausgiebig, ließ sich streicheln und als ich später nachsehen wollte, ob er noch Hunger hätte, war er nicht mehr zu sehen. „Er wollte raus!“ erklärte mir mein Vater auf meine unausgesprochene Frage und ich zuckte die Achseln. So wie es aussah war Stocki also satt und er widmete sich wieder anderen Dingen. Etwa eine Stunde später kam mein Bruder nach Hause. Er wirkte etwas abwesend auf mich und fragte mich hektisch, wo denn Stocki wäre. Ich sah ihn unverhohlen neugierig an. „Überall und nirgends, wie immer. Warum?“ Mein Bruder blickte an mir vorbei. „Ihr werdet es nicht glauben, weiter oben neben der alten Schulstraße, auf dem Gras, liegt ein großer roter Kater, der aussieht wie Stocki. War er heute überhaupt schon da?“ Mein Vater berichtete, dass Stocki den halben Vormittag da gewesen war, eher er sich kurz nach Mittag wieder nach draußen begeben hatte.

Wir alle waren für einen Moment betroffen. War es möglich, dass sich Stocki so weit fort von daheim wagte? Im Grunde wussten wir es alle nicht. Eine seltsame Stimmung machte sich breit. War Stocki nun nach seiner Mutter etwa auch einem Autofahrer zum Opfer gefallen? In unsere Überlegungen platze die Ankunft meiner jüngeren Schwester mit ihrem Mann. Sie bemerkte die Trauerstimmung bei uns sofort und schließlich schlug sie vor: „Am besten, wir fahren rauf und sehen wir uns dieses Tier einmal genauer an. Verschaffen wir uns einfach Gewissheit.“ Minuten später saßen wir alle im Wagen und waren Richtung alte Schulstraße unterwegs. Mein Bruder war sich unsicher, wo genau auf der Schulstraße er das tote Tier entdeckt hatte, deshalb mussten wir wieder ein Stück zurück fahren. Und schließlich entdeckte ich den roten Körper im halbhohen Gras. „Da ist er!“

Ich löste den Sicherheitsgurt und stieg als einzige aus. Schlecht hätte einem werden können, wenn man den großen, roten Körper betrachtete. Jeder Zoll Stocki, hätte ich schwören können, bis ich bemerkte, dass die Augen des Tieres halb geöffnet waren. Ich blickte hinein. Merkwürdig. Ich stutzte. Der Kater da hatte wunderschöne bernsteinfarbene Augen, während Stockis leuchtend grüne Augen aber ein Markenzeichen von ihm waren. Ich drehte mich zu meinen Leuten um. „Sieht nicht so aus, als ob er es wäre! Dieses Tier hat ganz andere Augen!“ Ich las die Skepsis in den Augen meiner Schwester. Aber Stockis Augen konnten sich im Tod doch nicht verändert haben, oder? Nicht nach so kurzer Zeit! Wir fuhren wieder nach Hause. Keiner von uns sagte ein Wort. Mein Schwager bog in die letzte Kurve ein, als meine Schwester plötzlich ganz laut zu schreien begann.

„Aber da sitzt er ja, neben dem Maisfeld!“ Kein Zweifel! Unser Stocki saß am Feldrand und musterte das vorbeifahrende Auto mit misstrauischem Gesichtsausdruck. Als der Wagen stehen blieb, stand er auf, streckte sich und lief auf uns zu. Stocki verstand nicht, warum wir ihn gar so euphorisch begrüßten, wir hoben ihn hoch und streichelten ihn mit vereinten Kräften. Im Gegenteil, er wirkte nicht besonders glücklich über den ganzen Trubel, die Extraportion Futter ließ er sich aber dann doch gern gefallen. Wir waren alle erleichtert, dass Stocki nichts zugestoßen war, wenn auch das Rätsel blieb, warum sich die beiden Kater so ähnlich sahen, so, als wären sie Brüder… „Vielleicht sind sie das auch…“ mutmaßte ich nachdenklich, „…vielleicht ist dieser tote Kater auch Stockis Vater. Genau wissen werden wir es nie.

Kater tragen nun mal keinen Personalausweis mit sich herum…

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