Der kleine Kater Petit lebte nun schon über ein halbes Jahr im Hause meiner Eltern und nicht nur dass er sich dort gut gehen ließ: er hatte jedermanns Herz sehr schnell im Sturm erobert – mit seinem liebenswürdigen Charme. Im Grunde hatte er sich ja das Haus und seine Bewohner untertan gemacht – ohne Schlacht, nein, waffenlos und willig hatte meine Familie vor dem kleinen Kerl kapituliert. Selbst Kater Stocki I., seines Zeichens bisher unangefochtener Herrscher, musste dem Tribut zollen, ob er wollte oder nicht. Anfangs war ihm der Protest gegen den jungen Rivalen noch gut anzusehen gewesen. Zeit seines Lebens ein Einzelgänger, hatte er mit den üblichen Katzenwaffen – tiefer Beleidigtheit und seltener Anwesenheit, wie etwa zur Fressenszeit – gegen den charmanten jungen Kater reagiert. Wenn Petit ihn anfangs in spielerischer Lust ansprang um mit ihm zu spielen und zu raufen, wurde der weiß-rotgetigerte Kleine meist sofort überwältigt, oder er bekam ein paar Tatzenhiebe mitten ins Gesicht, vorzugsweise auf die Nase…
Petit machte sich nie etwas daraus, er nahm nie etwas persönlich. Die nächste spielerische Attacke von ihm kam bestimmt, immer etwas unerwartet, und einige Zeit reagierte Stocki auch immer mit derselben vorsichtigen Aggressivität. Vorsichtig deshalb, weil er genau wusste, was passieren würde, käme er ernsthaft auf die Idee, Petit auch nur ein Härchen zu krümmen. Der junge Kater machte sich so oder so nichts aus der anfänglichen Ablehnung, er schien auf Zeit zu setzen und auf seinen Charme, mit dem er es schließlich schaffte, den erbitterten Gegner Stocki zu einem Verbündeten und zu so einer Art Ersatzbruder zu verwandeln. Denn das schien seine Strategie zu sein, wenn er beispielsweise zum schlafenden Stocki auf den Rauchersessel meines Vaters sprang und sich an den alten Kater kuschelte. Stocki ließ sich das zwar gefallen, reagierte aber mit Verwirrtheit und Unsicherheit. Einer Unsicherheit, die sich steigerte, als der süße Petit auch noch begann, Stocki immer wieder zärtlich abzulecken. Ich werde nie Stockis Gesichtsausdruck vergessen, als ich diese liebe Geste das erste Mal zwischen den beiden Katern beobachtete. Irgendwie wollte der Rote zuerst am liebsten davonlaufen, das merkte ich, und neben der Unsicherheit konnte ich auch einen leisen Hauch von Aggressivität am roten Tiger ausmachen…
Aber außer den üblichen, harmlosen Raufereien passierte in Folge nichts. Ganz im Gegenteil, Stocki schien an den Zärtlichkeiten seines neuen Gefährten zusehends Gefallen zu finden, was darin gipfelte, dass er Petit auch abzulecken begann. Mag sein, dass bei ihm ein paar verloren geglaubte Erinnerungen wieder aufgetaucht waren, Erinnerungen an seine Geschwister und an die Zeit, als er selber noch ein kleiner Kater gewesen war: verspielt, charmant und liebevoll und noch nicht der selbstbewusste, raubtierähnliche Kater, der neben Mäusen auch Hasen und Fasane erlegte… Ich weiß nicht genau, ob Katzen sich wirklich gut erinnern können, aber es wäre eine gute Erklärung für sein freundliches Verhalten gegenüber dem kleinen Petit, der irgendwie Bruder und auch Sohn für ihn geworden war. Der all die Sanftheit in ihm wieder aufgeweckt hatte, die der nicht immer einfache Alltag mit seiner neurotischen Mutter Minki oder die anstrengenden Zeit mit der schnurrigen wie lästigen Susi schwinden hatte lassen…
Unglaublich aber wahr, Stocki und Petit waren also im Lauf der kurzen Zeit fast ein Herz und eine Seele geworden, wovon jeder der beiden Kater profitiert hatte. Schade nur, dass der hinreißende Petit keine Anstalten machte, Mäuse zu fangen. Während sein leiblicher Bruder bei meiner Schwester in Kematen bereits erste Beutetiere vorzuweisen hatte, beschränkte sich der kleine Kater Petit bei uns hauptsächlich in Liebenswürdigkeit… Meine Mutter, zu dem Thema befragt, hatte allerdings größtes Verständnis dafür, dass Petit sich nicht wirklich zum Mäusejäger entwickelt hatte. „Ich glaube nicht, dass es an Petit liegt“, belehrte sie mich neulich. „Ganz im Gegenteil, ich bin mir sicher, es gibt hier einfach fast keine Mäuse mehr, weil Stocki fast die ganze Mäusepopulation in der Straße vertrieben hat – die sind bestimmt woanders hingezogen…!“
Ganz teilte ich ihre Meinung nicht, im Gegenteil, ich bin fest davon überzeugt, dass sie Petit einfach nur in Schutz nimmt: und wer könnte seinem Charme schon widerstehen?
(C) Vivienne